Frau Ponomarenko, was sind die Aufgaben und die Therapien dieser psychiatrischen Klinik vor dem Krieg, der am 24. Februar 2022 begonnen hat?
Seit seiner Gründung hat das psychiatrische Spital N.2 in Vorzel die Aufgabe, den Bedürfnissen der Bevölkerung aus Kyjiv und dem Kyiver Gebiet hinsichtlich psychiatrischer Behandlung und Betreuung entgegenzukommen. Das Spital verfügt im Ganzen über acht Abteilungen, wovon die wichtigsten folgende sind: für Kinder und Jugendliche, für Betroffene mit Downsyndrom, für Autisten, für Menschen mit psychischen Verhaltensstörungen und für solche mit Verspätungen in der mentalen Entwicklung. Eine Einheit ist dazu bestimmt, Kranken, die alkoholabhängig sind, zu helfen.
Wie viele vom Krieg traumatisierte Menschen aus den Kriegsgebieten werden in dieser Klinik im Moment behandelt? Wie haben diese Aufgaben sich mit dem Beginn des Krieges verändert? Wie viele Angestellte und freiwillige Helfer arbeiten hier?
Seit 2017 hat das Spital sich darauf spezialisiert, Veteranen, die durch die militärischen Kämpfe im Donbass psychische Schäden erlitten haben, Hilfe anzubieten. Die Mehrheit der Patienten leidet an Traumata, die durch den russischen Aggressionskrieg verursacht worden sind. Es sind Soldaten, die an der Front gekämpft haben und die die furchtbare Realität des Krieges nicht verkraften: sie mussten Menschen töten oder den Tod von Freunden erleben, ohne ihn verhindern zu können. Unter den Patienten befinden sich Soldaten, die sich von der Gesellschaft gezwungen fühlen, in den Krieg ziehen, während anderen der Krieg an der Front erspart bleibt. Es gibt auch Soldaten, die Gefangenschaft und Folter erlebt haben und andere, deren Familienangehörige Opfer von sexueller Gewalt wurden. Schließlich gibt es Patienten, die durch die Unfähigkeit, selbst mit Traumata klarzukommen, sich in Drogen- und Alkoholabhängigkeiten stürzen. Diese Menschen leiden vor allem an tiefen Depressionen, Angstzuständen und haben psychosomatische Beschwerden.
Das Spital kann maximal 300 Patienten aufnehmen und etwa 45 bis 50 sollen ambulant behandelt werden können, d.h. diese kommen tagsüber und verbringen die Nacht zuhause. Das Spital zählt momentan 16 Ärzte, 34 Krankenpfleger und -schwestern und 16 Angestellte (Sekretärin, Köche, Ambulanzfahrer, Arbeiter, Putzdienst). Heutzutage ist das Personal überbelastet und klar unterbelegt, da das Spital mehr Patienten beherbergt als die Infrastruktur vorsieht. Als im Februar 2022 der russische Angriffskrieg anfing, hat das Spital 62 Patienten der Kharkiver Psychiatrischen Anstalt aufgenommen. Sie mussten aus Kharkiv evakuiert werden. Da das Psychiatrische Spital in Kharkiv nach dem russischen Angriff auf die Stadt nicht mehr geöffnet wurde, bleiben alle Patienten vorläufig in Vorzel. Übers Wochenende steht nur ein Psychiater für alle 300 Patienten im Bereitschaftsdienst zur Verfügung.
Freiwillige Helfer kommen aber zum Spital, um ihre Hilfe n anzubieten. Es sind meistens Psychologie- und Medizinstudenten, die keine Verantwortung in der Behandlung übernehmen dürfen, und die Einsatzmöglichkeiten sind daher begrenzt. Im Spital gab es bis zu Beginn des Krieges eine Kinderabteilung. Die ist jetzt geschlossen.
Im Moment sind keine Kinder im Spital, da die Familien es vorziehen, sie bei sich zu behalten, oder sie kommen als ambulante Patienten vorbei.
Die Mitglieder eines Hundeclubs aus Kyjiv kommen regelmäßig mit ihren Hunden, um den Ärzten bei Canistherapien mit Kranken zu helfen.
Was sind die Hauptkrankheiten und psychischen Störungen der zivilen Patienten und der Soldaten, die von der Front hierherkommen?
Es ist uns Verantwortlichen gesetzlich nicht erlaubt, genaue statistische Daten von unseren Patienten zu veröffentlichen. Es ist aber eine Tatsache, dass dieses Spital sich seit 2015 auf die Behandlung von Kriegsveteranen spezialisiert hat.
Mit welchen Erwartungen) meldeten sich diese Menschen für den Krieg? Sind diese Hoffnungen falsch angesichts dessen, was die Soldaten dort erwartet?
Die persönliche Geschichte eines jeden Menschen ist unterschiedlich. Viele Patrioten meldeten sich für den Krieg, um ihr Land zu verteidigen. Nur ist die Realität, die die Soldaten an der Front erwartet, viel grausamer, als sie es sich vorstellen konnten.
Sind diese Männer und Frauen auf den Krieg vorbereitet gewesen?
Nein, allgemein kann man sagen, dass die Menschen gar nicht auf den Krieg vorbereitet waren. Bis zum Tag des massiven russischen Angriffs glaubte keiner richtig daran, dass so etwas möglich wäre. Umso größer war auch der Schock bei den UkrainerInnnen.
Hat diese Klinik genügend ausgebildetes Personal für die Therapien?
Es fehlt an Personal und vor allem an Personal, das ausgebildet im Bereich der Kriegstraumata ist. Manche Betreuer leiden selbst an Burnout. Und es fehlt an Medikamenten; die staatlich gesicherten Quoten wurden gesenkt, obwohl das Spital in dieser Zeit des Krieges viel mehr Medikamente braucht.
Was machen diese Männer und Frauen nach der Therapie?
Die zivilen Patienten kehren nach der Behandlung in die zivile Gesellschaft zurück. Leider ist die Anzahl der Rückfälle groß. Das hat damit zu tun, dass weiter Krieg geführt wird und es laute Luftabwehrsirenen fast jeden Tag gibt. Tragische Nachrichten erreichen täglich die Menschen. Nach ihrer Behandlung kehren die meisten Soldaten wieder an die Front zurück.
Vor welchen materiellen und personellen Herausforderungen steht die Klinik heute?) Was fehlt vor allem?
Es fehlt vor allem an Medikamenten und an nötiger medizinischer und materieller Ausstattung. Während der russischen Besatzung wurden alle Computer und medizinischen Geräte entweder gestohlen oder zerstört. Das Heizungssystem wurde stark beschädigt. Sogar Schöpflöffel und Besteck aus der Küche wurden gestohlen. Die medizinischen Enzyklopädien im Büro der Direktorin wurden verbrannt. Mehrere Abteilungen des Spitals müssen unbedingt renoviert werden. In viele Räume, in denen während der Besatzung Fenster und Türen ausgerissen wurden, hat es hineingeschneit und -geregnet, so dass die Bodenbeläge beschädigt sind und an vielen Stellen Schimmel aufgetreten ist. Diese müssen dringend ersetzt werden. Das kleine Gewächshaus, in dem die Kranken selbst ihr Gemüse angebaut haben, was auch Teil der Therapien ist, wurde zerstört.
Bekommt die Klinik Hilfen aus dem Ausland? Wieviel des Bedarfs der Klinik decken diese Hilfen?
In der ersten Linie sind es die ukrainischen Bürger, die nach der Befreiung Vorzels und der Rückkehr der Insassen ins Spitals helfen. Einige Bauern aus der Nähe bringen Milchprodukte und Lebensmittel. Sportvereine aus Kyjiv haben geholfen, die Gebäude nach der Besatzung zu putzen und, soweit es ging, zu reparieren.
Eine deutsche Organisation hat eine Geldspende für den Kauf von Medikamenten gemacht. Diese sollten bis zum Jahresende 2023 reichen. Aber der reale Bedarf ist so rasch gestiegen, dass diese Hilfspakete im Laufe von nur 3 Monaten aufgebraucht wurden.
Auf die Frage von Frau Pantaleoni, ob „Ad Pacem“ gleich mit einer Spende für den Kauf von Medikamenten helfen könne, kamen der Direktorin Tränen in die Augen. Sie gestand, dass der Klinik im Moment, in vielen Bereichen, nur Medikamente bis zum Ende der laufenden Woche zur Verfügung stünden. Sie nahm dankend das Angebot für den sofortigen Kauf von einem Hilfspaket von 1000 € an (zu sehen auf der Webseite unter der Rubrik „Russlands Krieg gegen die Ukraine“, 3. Juli 2023).
Frau Tetyana Ponomarenko mit Natalya Pantaleoni und unser Vertreter in der Ukraine Anatoly Kmetko.